Früher dachte ich, Spaziergänge sind was für Leute mit Nordic-Walking-Stöcken und wetterfester Funktionskleidung. Jetzt weiß ich: Sie sind mein Rettungsring. Mein halbstündiger Spaziergang – meist zwischen Abendbrotchaos und Zähneputzdrama – ist keine sportliche Meisterleistung, sondern seelische Selbstfürsorge. Und ganz ehrlich: Ohne ihn wäre ich wahrscheinlich längst in irgendeiner Wäschekorbkrise kollabiert. Und ich meine das nicht übertrieben. Zwischen Kindertränen, Butterbrotdosen und Dauerräumen brauche ich diesen Break wie die Luft zum Atmen.
Rausgehen, wenn alles zu viel ist
Es gibt Tage, da summt der Kopf wie eine überdrehte Waschmaschine. Termine, To-do-Listen, Kinderlärm, offene Spülmaschinenklappe – alles dreht sich. Und dann sage ich einfach: „Ich geh kurz raus.“ Klingt harmlos. Ist aber meine persönliche Notbremse. Die Reißleine, bevor aus einem genervten Papa ein brüllender Hulk wird.
Diese halbe Stunde gehört mir. Kein Handy, keine Nachrichten, kein „Papa, wo ist mein Dino?“ Einfach nur ich, meine Gedanken und ein paar Schritte auf dem Bürgersteig. Oder im Park. Oder einmal um den Block, wenn’s schnell gehen muss. Hauptsache: Bewegung. Und frische Luft. Und das Gefühl, nicht zu platzen. Manchmal braucht es einfach nur einen Schritt vor die Tür, um zu merken, dass ich selbst auch noch existiere – außerhalb meiner Papa-Funktion.
Wenn ich loslaufe, spüre ich erstmal nur den Druck. Die Anspannung, die sich über den Tag angesammelt hat, wie eine unsichtbare Last auf meinen Schultern. Doch je weiter ich gehe, desto leichter wird alles. Meine Atmung wird tiefer, die Schultern sinken, der Blick wird weiter. Ich nehme Dinge wahr, die ich vorher übersehen habe – eine Katze auf dem Zaun, ein Kind, das Kreidebilder malt, ein alter Mann mit Hut, der mir zunickt. Kleine Details, große Wirkung.
Was da draußen mit mir passiert
Nach zehn Minuten kommt die Ruhe. Mein Kopf sortiert sich, Gedanken bekommen wieder Form. Der Knoten aus Termindruck, Schuldgefühlen und mentalem Chaos beginnt sich zu lösen. Ich atme bewusster. Manchmal summe ich ein Lied, das ich gar nicht kenne. Oder ich denke an gar nichts. Und das fühlt sich verdammt gut an.
Ich zähle keine Schritte, messe keine Strecke. Mein Spaziergang ist keine Challenge, sondern ein Gespräch mit mir selbst. Und oft kommt in diesen Momenten der Erkenntnisblitz: „Vielleicht sollte ich das morgen einfach mal lassen.“ Oder: „Krass, wie viel ich eigentlich geschafft hab.“ Oder auch nur: „Was für ein schöner Himmel heute.“
An manchen Tagen bin ich wütend, wenn ich losgehe. Dann knirsche ich mit den Zähnen, fluche innerlich über zu viele Anforderungen und zu wenig Schlaf. Aber auch das darf sein. Der Weg schluckt meinen Frust. Schritt für Schritt lasse ich los – Erwartungen, Druck, dieses ständige Müssen. Ich kehre nicht jedes Mal als strahlender Zen-Mönch zurück, aber oft zumindest als eine etwas freundlichere Version von mir selbst.
Und manchmal rede ich auch laut mit mir. Nicht lang, nicht laut – aber genug, um meinem Frust ein Ventil zu geben. Wer mich dabei sieht, denkt vielleicht: Der hat sie nicht mehr alle. Aber weißt du was? Das ist mir komplett egal. Denn ich komme zurück – mit einem klareren Kopf, entspannter, präsenter. Und das zählt.
Kleine Begegnungen, große Wirkung
Nicht selten treffe ich beim Gehen auch andere Menschen. Fremde, Nachbarn, Bekannte. Ein kurzes „Hallo“, ein Lächeln, ein Nicken. Und plötzlich fühle ich mich weniger allein. Diese Mini-Momente sozialer Verbindung – sie wirken Wunder. Es ist, als würde sich mein inneres Stresslevel synchronisieren mit der Welt da draußen. Die Welt läuft weiter, ohne dass ich alles kontrollieren muss. Und das ist ein beruhigender Gedanke.
Manchmal nehme ich mir sogar bewusst eine Route, bei der ich weiß, dass ich an Bäumen vorbeikomme. Klingt komisch, ich weiß. Aber etwas an diesen alten, knorrigen Baumstämmen, die in aller Ruhe ihre Blätter im Wind schaukeln, erdet mich. Kein Bildschirm, kein Piepen, kein „nur mal eben noch“ – einfach Natur. Einfach Sein.
Wenn Papa runterkommt, profitiert die ganze Familie
Was ich anfangs für Egoismus hielt, ist längst Routine – und zwar eine, die allen gut tut. Wenn ich zurückkomme, bin ich nicht der gestresste Papa, der innerlich schon die Brotdosen für morgen plant, sondern ein Typ, der wieder atmen kann. Der zuhört. Der sich nicht gleich aufregt, wenn jemand den Saft über den Teppich kippt.
Meine Frau sagt manchmal: „Man merkt, wenn du draußen warst.“ Und das ist das schönste Kompliment. Denn es zeigt: Ich tue nicht nur mir selbst was Gutes, sondern auch den Menschen, die mit mir leben (und mich ertragen müssen).
Auch die Kinder reagieren auf meine Ruhe. Sie spüren, dass ich präsenter bin. Nicht nur körperlich, sondern auch gedanklich. Ich kann besser mit ihren Emotionen umgehen, weil ich vorher meine eigenen sortiert habe. Und wenn ich ihnen dann erzähle, dass Papa draußen ein Eichhörnchen gesehen hat, lachen sie. Wir lachen zusammen. Und das verbindet.
Ich bin überzeugt: Gelassene Eltern machen gelassenere Kinder. Und das beginnt oft mit den kleinsten Dingen – wie einem Spaziergang am Abend, bevor der Familienabend ausfranst. Meine Kinder müssen nicht wissen, dass das mein Rettungsanker ist. Sie spüren einfach, dass ich danach mehr bei ihnen bin. Und das reicht.
Fazit: Kein Sport, kein Ziel – nur ich und der Weg
Mein halbstündiger Spaziergang hat keine Playlist, keinen Trainingsplan und kein konkretes Ziel. Aber er hat Wirkung. Große sogar. Er gibt mir Abstand zum Alltagswahnsinn und Nähe zu mir selbst.
Vielleicht ist das der wichtigste Weg überhaupt – der raus aus dem Haus und rein in den Kopf. Ohne viel Aufwand. Ohne Equipment. Nur mit festen Schuhen, einem offenen Ohr für Vogelgezwitscher und dem Mut, einfach mal kurz abzuhauen. Für mich. Für uns.
Und das Beste: Dieser Weg ist jederzeit verfügbar. Kein Abo, kein Coach, keine Challenge. Nur ich, der Himmel über mir und der Boden unter meinen Füßen. Und manchmal – wenn es besonders gut läuft – ein Sonnenuntergang, der mich daran erinnert, wie schön das Leben sein kann, wenn man sich traut, einfach loszugehen.
Also ja: Es ist mehr als ein Spaziergang. Es ist meine halbe Stunde Frieden. Mein Stück Alltag, das nur mir gehört. Und das mich jeden Tag ein bisschen mehr zu dem Papa macht, der ich sein will.