Es gibt Orte, die heilen, ohne dass sie etwas sagen. Für mich ist dieser Ort der Wald. Kein Wellnesshotel, keine PlayStation-Pause, kein Kaffee-auf-dem-Balkon kann das, was ein Spaziergang zwischen Bäumen bei mir auslöst. Der Wald ist meine grüne Flucht. Mein Ort, wenn alles zu viel wird. Wenn die To-dos über den Kopf wachsen und die Nerven so dünn sind wie das letzte Papiertaschentuch im Kinderzimmer. Dann zieht es mich raus. In den Wald. Und zwar allein.
Ich gehe nicht zum Sport in den Wald. Nicht zum Meditieren. Nicht, weil ich irgendeinem Ratgeber gefolgt bin. Sondern, weil mein Bauch irgendwann gesagt hat: „Du musst hier raus.“ Weil ich gespürt habe, dass vier Wände nicht reichen, wenn der Kopf randvoll ist. Der Wald war nie geplant – aber er war genau richtig.
Warum der Wald kein Luxus ist, sondern Notwendigkeit
Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, wie wichtig dieser Rückzugsort für mich ist. Früher dachte ich, ich muss immer verfügbar sein – als Vater, als Partner, als Mensch. Nur wenn ich präsent bin, bin ich gut. Nur wenn ich alles mitbekomme, alles regle, alles aushalte, bin ich wertvoll.
Aber irgendwann merkte ich: Ich funktioniere. Ich reagiere, ich löse, ich kümmere mich. Aber ich fühle nichts mehr. Ich war da, aber irgendwie nicht richtig. Leer. Genervt. Und völlig erschöpft.
Dann kam dieser eine Samstagmorgen, an dem ich einfach loslief. Ohne Plan, ohne Ziel. Ich zog die Wanderschuhe an, sagte „Ich bin mal kurz raus“ – und ging. Fünf Minuten später stand ich zwischen den ersten Bäumen. Die Luft war feucht. Die Vögel laut. Der Boden weich. Und ich – das erste Mal seit Wochen – ganz bei mir.
Seitdem ist der Wald mein Ort geworden. Mein Reset-Button. Die Tür, durch die ich gehe, wenn der Alltag mir zu eng wird. Ich habe gelernt: Der Wald ist kein Hobby. Er ist ein notwendiger Teil meines Überlebensplans.
Die Magie des Gehens ohne Ziel
Im Wald geht es nicht darum, wo du ankommst. Es geht ums Gehen selbst. Darum, Schritt für Schritt von all dem wegzugehen, was gerade zu viel ist. Der Lärm in der Wohnung, der Druck im Kopf, die ständige Anspannung im Körper.
Ich laufe langsam. Ohne Musik. Ohne Apps. Ohne Schrittzähler. Ich höre auf den Boden unter meinen Schuhen. Auf das Knacken der Äste. Das Rauschen der Blätter. Und irgendwann – wenn ich richtig drin bin – auf meine eigenen Gedanken. Die ganz leisen. Die, die im Alltag keine Chance haben, weil ständig jemand „Papa!“ ruft.
Ich bleibe stehen. Berühre Rinde. Sehe mir Blätter an. Ich entdecke Kleinigkeiten – Pilze, Tropfen auf Moos, Spuren im Matsch. Dinge, an denen ich früher einfach vorbeigelaufen wäre. Der Wald zwingt mich, langsamer zu werden. Und genau das brauche ich.
Manchmal denke ich gar nichts. Und das ist vielleicht das Beste. Dann gehe ich einfach. Atme. Spüre den Wind im Gesicht. Fühle die Sonne auf der Haut oder den Regen auf der Jacke. Und merke: Ich lebe. Nicht nur irgendwie – sondern wirklich.
Waldzeit ist keine Flucht – sie ist Rückkehr
Oft heißt es: „Papa geht wieder flüchten.“ Als wäre ich feige, wenn ich mich rausziehe. Aber das Gegenteil ist der Fall. Ich ziehe mich zurück, damit ich bleiben kann. Damit ich wieder spüre, warum ich das alles mache. Damit ich nicht platze oder still werde oder nur noch funktioniere.
Der Wald holt mich zurück. Zu mir. Zu meinem inneren Gleichgewicht. Wenn ich dort bin, merke ich, was mir wichtig ist. Ich denke über Dinge nach, die ich sonst wegdrücke. Über das letzte Streitgespräch mit meiner Partnerin. Über meine eigene Ungeduld. Über den Moment, als mein Sohn weinend aus der Schule kam und ich zu gestresst war, um wirklich zuzuhören.
Im Wald bin ich ehrlich zu mir. Da muss ich nichts vorspielen. Kein starkes Vaterbild. Kein „Ich hab alles im Griff“. Da darf ich schwach sein. Müde. Überfordert. Da darf ich auch mal weinen – und keiner sieht es. Kein Baum lacht.
Und wenn ich nach zwei Stunden zurückkomme, dann sehe ich vieles anders. Nicht alles ist gelöst, aber ich bin wieder handlungsfähig. Ich kann zuhören, annehmen, mitfühlen. Ich bin kein Superheld – aber ein besserer Mensch als vorher.
Kleine Rituale, große Wirkung
Mit der Zeit habe ich mir meine Wald-Auszeiten richtig eingerichtet. Ich habe meine Lieblingswege, meine Bank am Bach, meine Stelle mit Blick auf das Tal. Ich nehme meist eine Thermoskanne Tee mit, manchmal auch einen kleinen Snack. Ich setze mich hin, höre, schaue, schweige.
Und dann schreibe ich. In ein kleines Notizbuch. Nicht jeden Tag, nicht jeden Ausflug. Aber oft. Nur für mich. Gedanken, Fragen, manchmal auch nur eine Liste mit Dingen, die mich nerven. Oder die, für die ich dankbar bin. Diese zehn Minuten auf der Bank – sie helfen mir, klarer zu sehen. Und mich wieder zu sortieren.
Oft schreibe ich auch über die Dinge, die ich sonst nie ausspreche. Ängste, Zweifel, Träume. Im Wald darf alles raus. Und wenn ich es lese, später – zu Hause – merke ich: Vieles war halb so wild. Oder genau richtig. Oder einfach menschlich.
Was der Wald in mir verändert hat
Ich bin kein anderer Mensch geworden. Ich bin noch immer chaotisch, ungeduldig und manchmal zu laut. Aber ich bin bewusster. Ich merke schneller, wann ich kippe. Ich reagiere anders. Sanfter. Ich erkenne meine Grenzen – und versuche, sie zu achten.
Der Wald hat mir gezeigt, dass Pausen kein Luxus sind. Sondern Lebenswichtig. Für mich – und für die, die mit mir leben. Meine Kinder haben mehr von einem Vater, der zwischendurch kurz weg ist, als von einem, der dauernd da ist, aber innerlich nicht mehr auftaucht.
Und: Ich habe wieder Zugang zu mir. Ich weiß, was mir wichtig ist. Ich nehme mich ernst. Und das strahlt aus – auf meine Beziehung, auf meine Arbeit, auf mein ganzes Sein.
Wenn meine Familie fragt: Wo warst du?
Anfangs gab’s Fragen. „Musst du schon wieder in den Wald?“ „Warum nimmst du uns nicht mit?“ Die ehrliche Antwort: Weil ich es allein brauche. Weil ich nur so runterkomme. Weil ich im Alltag ständig in Beziehung bin – und im Wald einfach nur ich.
Aber ich habe gelernt, das zu kommunizieren. Ohne schlechtes Gewissen. Ohne Ausreden. Einfach: Ich brauche das. Für mich. Und damit auch für euch.
Mittlerweile ist es Alltag geworden. Wenn ich mit Jacke und Thermoskanne losziehe, gibt es kein Augenrollen mehr. Mein Sohn sagt dann manchmal: „Bring uns ein schönes Blatt mit.“ Und ich tu’s. Ein Ahornblatt, eine Kastanie, ein Stück Rinde. Kleine Zeichen, dass ich an sie denke – auch wenn ich weg bin.
Und ja, manchmal nehme ich sie auch mit
Nicht immer bin ich allein unterwegs. Manchmal fragt mein Kind, ob es mitdarf. Dann gehen wir zusammen. Hand in Hand. Reden über Eichhörnchen, über Schulgeschichten, über alles Mögliche. Oder wir schweigen zusammen. Auch das ist schön.
Es ist dann nicht meine Auszeit – aber es ist eine andere Art von Wald-Magie. Eine gemeinsame. Und die ist genauso wertvoll. Denn sie zeigt: Ich teile das, was mir Kraft gibt. Und ich zeige, dass auch Papas mal leise sein dürfen.
Und manchmal gehen wir zu dritt. Ich, meine Frau und eines der Kinder. Dann ist es ein kleiner Ausflug, kein Rückzug. Aber auch das tut gut. Weil ich merke: Der Wald ist groß genug für alle. Und er gibt jedem das, was er gerade braucht.
Fazit: Der Wald ist mein Atemzug in einem zu engen Alltag
Wenn der Wald ruft, dann rufe ich nicht zurück – ich gehe. Weil ich weiß: Ich komme anders wieder. Leichter. Klarer. Mehr ich.
Der Wald ist mein Ort der Erinnerung. Daran, wer ich bin, wenn keiner was von mir will. Daran, dass ich Gefühle habe. Wünsche. Grenzen. Dass ich atmen darf, langsam, tief, ganz für mich.
Und wenn ich zwischen den Bäumen stehe, der Wind durch die Blätter rauscht und ich nichts höre außer Natur, dann weiß ich: Ich bin genau da, wo ich sein muss.
Und genau deshalb bleibe ich dem Wald treu. Nicht als Ziel. Sondern als Weg. Meinen Weg.