Es begann wie so vieles in meinem Vaterleben: mit einem harmlosen Plan. Fünf Minuten an der frischen Luft, nur einmal ums Karree, das Kind etwas auspowern, ich dabei einen Kaffee in der Hand, vielleicht einen Podcast auf einem Ohr – fertig. Ein kleiner Ausgleich nach einem Vormittag voller Bauklotz-Chaos, Teigknet-Attacken und dem Versuch, eine Banane in Scheiben zu schneiden, ohne dabei beleidigt angeschaut zu werden. Tja. Denkste.
Die Ausgangslage: Papa in Jogginghose, Kind in Abenteuerlaune
Ich öffnete die Tür mit diesem inneren Mantra: „Gleich wieder da.“ Mein Sohn, dreieinhalb Jahre alt und randvoll mit Energie, hatte bereits seine Gummistiefel an – obwohl es draußen trocken war.
Aber wer bin ich, sowas infrage zu stellen? Ich schnappte mir den Kinderwagen fürs Geschwisterchen, warf mir eine Jacke über, vergaß natürlich den Haustürschlüssel (das ahnte ich da noch nicht) – und los ging’s. Noch schnell ein Blick in den Spiegel: zerzauste Haare, Kaffeefleck auf dem Shirt, aber hey – draußen sieht das niemand. Oder?
Erster Stopp: Die Baustelle um die Ecke
Kaum hundert Meter vom Haus entfernt, blieb mein Sohn wie angewurzelt stehen. Die große Baustelle war aktiv. Bagger! Ein Presslufthammer! Ein Kran! Und ein Mann mit oranger Weste, der freundlich winkte – was bei meinem Sohn Begeisterungsstufe 100 auslöste.
„Papa, Bagger ist gelb!“
„Ja, genau. Gelb.“
„Und groß!“
„Stimmt auch.“
„Ich will stehen bleiben.“
Und stehen blieben wir. Zehn Minuten. Ich verlor dabei meine heiße Kaffeetemperatur und meine Illusion vom „kurzen Spaziergang“. Der Presslufthammer donnerte weiter. Das Baby im Wagen schlief ein. Immerhin ein Sieg. Mein Sohn stand da wie verzaubert – als würde er überlegen, ob er später Baggerfahrer oder Kranpilot werden will. Ich stand da wie ein Schild, das „Eltern in Ausbildung“ trug.
Zweiter Halt: Der Regenwurm auf dem Weg
Als wir weitergehen wollten, entdeckte mein Sohn einen Regenwurm. Beziehungsweise: das, was ein Regenwurm war, bevor er von einem Fahrrad überfahren wurde. Für mich war das eine klare Sache. Für meinen Sohn war es eine Naturstudie.
„Papa, der schläft?“
„Nein, der… ist tot.“
„Was heißt das?“
Ich versuchte, es kindgerecht zu erklären. Irgendwas mit „zurück zur Erde“ und „wie in der Geschichte mit dem Eichhörnchen“. Mein Sohn hörte zu, nickte – und fragte, ob wir ihn beerdigen können. Also standen wir da, beerdigten symbolisch einen halben Wurm mit einem Blatt, hielten eine spontane Schweigeminute ab und gingen weiter. Ich sah auf die Uhr: Wir waren jetzt 25 Minuten unterwegs. Gerade mal bis zur zweiten Straßenecke. Und das Baby hatte angefangen, im Schlaf zu schmatzen. Die Uhr tickte.
Dritter Halt: Der Hund mit der Schleife
Auf dem Weg zum Spielplatz begegneten wir einem Nachbarn mit seinem Pudel. Der Hund trug – kein Witz – eine rosa Schleife. Mein Sohn war fasziniert. Ob der Hund Geburtstag hätte? Ob er in den Kindergarten ginge? Ob Hunde auch Rutschen dürfen? Die Fragen prasselten auf mich ein, ich versuchte, halbwegs kluge Antworten zu geben. Der Hund schlabberte inzwischen an meinem Kinderwagen und hinterließ einen Sabberstreifen, der bis zum Vorderrad reichte. Ich nickte freundlich zum Nachbarn, der nur müde grinste. Die Uhr zeigte: 38 Minuten.
Zwischenstopp: Verlorener Kuschelfreund
Wir erreichten den kleinen Spielplatz ums Eck. Dort trafen wir auf eine andere Papa-Kind-Kombo. Der Papa – mit Thermobecher und leicht genervtem Blick. Das Kind – euphorisch im Sand. Mein Sohn stürzte sich auf die Rutsche, ich setzte mich auf die Bank. Kurz entspannen? Denkste.
Nach fünf Minuten suchte mein Sohn panisch seinen kleinen Stoffhasen. Den hatte er vor der Haustür in die Jackentasche gesteckt. Nun war er weg. Ich wusste, was das bedeutet: Keine Chance, den Spaziergang fortzusetzen, bevor Hasi gefunden ist.
Also ging ich mit schlafendem Baby im Wagen die Strecke rückwärts. Baustelle? Kein Hase. Regenwurmgrab? Kein Hase. Hund mit Schleife? Kein Hase. Ich fand ihn schließlich – eingeklemmt zwischen zwei Gitterstreben am Laternenpfahl. Rückweg. Hasi wurde empfangen wie ein Held.
Vierter Halt: Der Supermarkt – aka das „Ich-will-nur-einen-Saft“-Debakel
Weil der Spielplatz nicht mehr spannend war und ich dachte, ich könnte clever sein, schlug ich vor, kurz zum Supermarkt zu gehen. „Nur ein Saft, okay?“ Mein Sohn jubelte. Im Laden wollte er dann plötzlich Gummibärchen, einen Joghurt mit Dino-Löffel und eine quietschende Banane (kein Witz – Spielzeug). Ich blieb standhaft. Mein Sohn nicht. Ergebnis: ein kleines Wutbeben auf Höhe der Kasse. Zwei Blicke von kinderlosen Rentnern später stand ich mit schreiendem Kind, schwitzend und mit einem Apfelsaft in der Hand draußen. Und ich schwor mir: nie wieder spontan in den Supermarkt.
Papa-Level: Geduldig
Inzwischen waren wir über eine Stunde unterwegs. Der „Spaziergang“ hatte alle Stationen eines klassischen Abenteuers durchlaufen: Staunen, Drama, Verlust, Wiedervereinigung, Nervenprobe. Ich war verschwitzt, der Kaffee leer, der Podcast längst beendet. Aber mein Sohn strahlte. Und das Baby schlief immer noch. Halleluja.
Endgegner: Pfütze am Nachhauseweg
Wir bogen in unsere Straße ein. Noch 300 Meter. Ich sah das Ziel – die Haustür – schon vor mir. Und dann sah er sie: die Pfütze. Es war keine große. Aber groß genug für Gummistiefel. Mein Sohn sprintete los. Ich rief noch: „Nicht mit voller Wucht!“ Aber es war zu spät. Er sprang rein, das Wasser spritzte bis an die Knie.
Dann der zweite Sprung. Dann der dritte. Ich seufzte. Das Baby regte sich. Ich sah, wie sich die Schlafphase dem Ende näherte. Ich bat: „Noch einen Sprung, dann nach Hause, okay?“
Er nickte. Sprang. Und fiel.
Nasse Hose. Tränen. Schlammige Hände. Ich hob ihn hoch, versuchte ihn zu trösten, während ich mit einer Hand den Kinderwagen schob. Zuhause angekommen: kein Schlüssel. Der lag natürlich drinnen.
Wir klingelten. Niemand da. Ich atmete durch. Tief. Und setzte mich auf die Treppenstufe.
Ende des Spaziergangs: Auf der Treppenstufe
Wir saßen also auf der Treppenstufe vor dem Haus. Ich mit zwei Kindern – eines müde, das andere matschig. Und in dem Moment kam meine Frau um die Ecke. Sah uns. Und sagte nur: „Sollte das nicht ein kurzer Spaziergang werden?“
Ich nickte. Sie lachte. Ich auch. Das Baby gähnte. Mein Sohn zeigte auf seinen Schuh: „Papa, da ist Schlamm drin.“ Ich konnte nur noch nicken. Das war mein Nachmittag.
Was ich aus diesen zwei Stunden gelernt habe
- „Kurz mal raus“ ist mit Kleinkind eine Utopie.
- Regenwürmer und Baustellen schlagen jede App.
- Ein verlorenes Kuscheltier kann eine ganze Mission gefährden.
- Pfützen sind für Kinder, was Schokolade für Erwachsene ist: unwiderstehlich.
- Immer an den Schlüssel denken. IMMER.
- Spontane Supermarktbesuche sind Mutproben.
- Hunde mit Schleife sind Gesprächsthemen für Stunden.
- Geduld wächst proportional zur Länge des Spaziergangs.
Fazit: Kein Spaziergang ist nur ein Spaziergang
Früher dachte ich, ein Spaziergang dient der Entspannung. Heute weiß ich: Es ist ein Abenteuer. Mit Höhen und Tiefen. Mit kleinen Katastrophen und großen Glücksmomenten. Mit Erkenntnissen über dich selbst und über die Welt, wie sie durch Kinderaugen aussieht.
Ich gehe immer noch raus. Immer wieder. Weil ich weiß: Jeder dieser „5-Minuten-Spaziergänge“ ist mehr als nur frische Luft. Es ist gemeinsame Zeit. Unplanbar, unperfekt – aber unvergesslich.